Welcher Islam gibt den Ton an?

Indonesien
Indonesien gilt als liberaler muslimischer Musterstaat. Doch konservative Einflüsse nehmen zu. Das ist auch eine paradoxe Folge der Demokratisierung und wachsender religiöser Konkurrenz.

Noch vor wenigen Jahren galt der indonesische Islam im internationalen Vergleich als gemäßigt. Inzwischen gewinnen strenge, ja reaktionäre Deutungen dieser Religion an Einfluss. Dazu tragen Einflüsse aus arabischen Ländern bei, aber auch die zahlreichen Wahlkämpfe, in denen konkurrierende Parteien und gesellschaftliche Organisationen die Religion politisch nutzen.

Nach Ansicht vieler Beobachter haben in Indonesien Traditionen der Religionsvermischung, etwa unter dem jahrhundertelangen Einfluss indischer Religionen, sowie die ethnische und kulturelle Vielfalt eine gewisse Toleranz erforderlich gemacht. Zudem ist die offizielle Staatsdoktrin seit der Unabhängigkeit des Landes die Pancasila („Fünf Säulen“); die Anhänger dieser fünf Prinzipien konnten sich in der verfassunggebenden Versammlung 1945 gegen die Verfechter eines islamischen Staates durchsetzen. Eines der Prinzipien erkennt mehrere (mittlerweile sechs) Religionen als gleichberechtigt an. Dabei ist eine Religion offiziell definiert durch einen Propheten, ein heiliges Buch, eine Gottheit und dadurch, dass sie international anerkannt ist. Indonesiens Verfassung ist also nicht säkular, aber in Glaubensfragen relativ offen.

Nach dem letzten Zensus des Jahres 2010 sind etwa 87 Prozent der mittlerweile knapp 270 Millionen Menschen in Indonesien muslimisch, 7 Prozent protestantisch, 3 Prozent katholisch, 1,5 Prozent hinduistisch (besonders auf der Insel Bali) und 0,7 Prozent buddhistisch. Außerdem gibt es eine kleine Gruppe überwiegend ethnisch chinesischer Konfuzianer. Die Statistik führt aber etwas in die Irre. Für viele Hinduisten, Buddhisten und Konfuzianer ist ihr Glaube nicht monotheistisch. Zudem gehören etwa 20 Millionen Indonesier einer von mehreren Hundert meist synkretistischen „Glaubensströmungen“ an, die amtlich nicht als Religionen definiert sind. Kebatinan zum Beispiel besteht aus islamischen (besonders sufistischen), hinduistischen und buddhistischen Elementen. Suharto, der von 1968 bis 1998 Präsident war, war Kebatinan-Anhänger.

Die Anhänger solcher Strömungen hatten sich bis 2017 zumindest auf dem Papier einer der sechs anerkannten monotheistischen Religionen anzuschließen. Seit einem Urteil des Verfassungsgerichtes vom November 2017 dürfen sie nun ihren jeweiligen Glauben in ihren Ausweisdokumenten aufführen. Dieses Urteil empfinden viele Muslime als skandalös – besonders Anhänger eines reaktionären, arabisierten Islam.

Restriktive Anwendung eines reaktionären Islams

Der durchdringt mehr und mehr Bereiche. Das zeigt sich etwa darin, dass ein altes Blasphemiegesetz bei Auseinandersetzungen über den Bau von Kirchen und bei Angriffen auf religiöse Minderheiten, insbesondere Christen, Schiiten und Ahmadiyah-Anhänger, viel restriktiver als früher angewendet wird. Auch ein islamistisch motivierter Terrorismus ist seit den frühen 2000er Jahren virulent. Zuletzt, am 13. Mai 2018, wurden bei Selbstmordanschlägen auf drei Kirchen in Surabaya 14 Menschen getötet. Am 14. und 16. Mai 2018 starben bei Angriffen auf Polizeidienststellen in Surabaya und Riau zehn beziehungsweise fünf Personen. Alle Anschläge werden der Gruppierung Jamaah Ansharut Daulah (JAD), die den sogenannten Islamischen Staat unterstützt, zugerechnet.

Gegenwärtig gibt es mehrere relativ moderate islamische Parteien im nationalen Parlament, aber viele Wähler befürworten grundsätzlich einen reaktionäreren Islam. In den letzten Jahren haben sich viele neue islamische Organisationen gebildet. Die besonders einflussreiche islamistische Front Pembela Islam (Front zur Verteidigung des Islam, FPI) zum Beispiel hat einer Umfrage zufolge starken Rückhalt bei etwa 20 Prozent der Befragten. Es ist durchaus denkbar, dass sich in Zukunft eine islamistische Partei etabliert, die sich dem bestehenden Parteienkartell nicht anschließt, um in populistischer Manier die „wahren“ Muslime gegen eine „moralisch korrupte“ Elite zu vertreten.

Autor

Andreas Ufen

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Asienstudien am German Institute of Global and Area Studies (GIGA) in Hamburg.
Seit einigen Jahren mobilisieren die FPI und andere Gruppierungen ihre Anhängerschaft bewusst außerparlamentarisch, aber im direkten Zusammenhang mit Wahlkämpfen. Im Dezember 2016 versammelten sich beispielsweise mehrere Hunderttausend Muslime in Jakarta für die wohl größte Demonstration in der Geschichte des Landes. Sie wollten erreichen, dass Basuki Tjahaja Purnama oder kurz Ahok, der damals Gouverneur von Jakarta war, verurteilt wurde, weil er sich blasphemisch geäußert haben sollte – was von seinen Anhängern vehement bestritten wird. Als ethnischer Chinese und Protestant war Ahok eine willkommene Zielscheibe für die Hardliner unter orthodoxen Muslimen. Letztlich wurde er zu einer Gefängnisstrafe verurteilt (seit Januar dieses Jahres ist er wegen „guter Führung“ wieder frei).

Ein Rechtsgutachten (fatwa) des offiziösen Indonesischen Ulama-Rates war eine der Grundlagen dieses Gerichtsurteils und hatte zur Schaffung der Anti-Ahok-Bewegung geführt. Diese bildete dann vor den Präsidentschaftswahlen 2019 eine informelle Koalition mit einem der beiden Kandidaten, Prabowo. Der Ex-General und ehemalige Schwiegersohn von Suharto unterzeichnete einen Integritätspakt und versprach bei einem Wahlsieg unter anderem, den Führer der FPI, Habib Rizieq Shihab, persönlich zurück nach Indonesien zu begleiten. Habib Rizieq hatte Indonesien im April 2017 wegen einer drohenden Verurteilung im Zusammenhang mit einem pornografischen Online-Chat verlassen und in Saudi-Arabien, wo er sich noch heute aufhält, Unterschlupf gefunden.

Der Präsident vertritt einen toleranten islam

Dem seit 2014 amtierenden Präsidenten Joko Widodo oder Jokowi gelang es jedoch, der landesweiten Spaltung in Moderate und Islamisten entgegenzuwirken und die Wahl im April 2019 wieder knapp zu gewinnen. Er siegte unter anderem, weil er einen sehr konservativen Vertreter der Muslimorganisation Nahdatul Ulama (NU), Ma’ruf Amin, zu seinem Kandidaten für den Posten des Vizepräsidenten berief. Viele Islamisten hassen Jokowi, weil er aus ihrer Sicht mithilfe der Generalstaatsanwaltschaft, die in Korruptionsfällen ermittelt, Kritiker eingeschüchtert hat. Zudem hatte er ihrer Meinung nach das Verbot der islamistischen Hizbut Tahrir Indonesia (HTI) vorangetrieben und versucht, die Bewegung gegen Ahok zu schwächen. Außerdem gibt es in der Koalition Jokowis Mitglieder, die zur Bewegung von Schwulen und Lesben und zu einem Gesetzentwurf zu sexueller Gewalt Meinungen vertreten, welche für Islamisten inakzeptabel sind.

Jokowi gilt als Vertreter eines toleranten Islam, der die Pancasila und den bestehenden Multikulturalismus gutheißt. Er braucht aber die Unterstützung der großen Muslimorganisation Nahdatul Ulama. Die soll etwa 40 Millionen Mitglieder haben und vertritt einen genuin indonesischen Islam, der indigene Traditionen anerkennt, sich ausdrücklich gegen eine weitreichende Arabisierung wendet und salafistische Strömungen bekämpft. Dieser tolerante Islam sollte nach Ansicht vieler NU-Anhänger in die Nachbarländer Brunei und Malaysia exportiert werden.

An der Spitze der NU stehen Leiter, meist zugleich auch Besitzer von islamischen Internaten, von denen es in Indonesien, vor allem in Java, etwa 18.000 geben soll. Viele dieser Schulen sind in Dörfern an alten Lehrtraditionen orientiert und deshalb relativ offen für multikulturelle Einflüsse. Die NU wird in erster Linie von Religionsgelehrten (ulama) dominiert, während in der zweiten großen Muslimorganisation, der Muhammadiyah, viele Intellektuelle mit säkularer Ausbildung Führungspositionen innehaben. Auch sie gilt wie die NU als relativ moderat, in Teilen sogar liberal. Beide Organisationen werden gegenwärtig in Indonesien als Anwärter auf den Friedensnobelpreis ins Gespräch gebracht.

Dass reaktionäre Strömungen des Islam zunehmend Anhänger gewinnen, hat auch mit der Demokratisierung und wachsender Konkurrenz im religiösen Bereich zu tun. In der autoritären Neuen Ordnung (1966-98) unter Suharto gab es eine allenfalls in Ansätzen oppositionelle islamische Partei, einen weitgehend kontrollierten Indonesischen Ulama-Rat und mit der NU und Muhammadiyah zwei moderate, der Pancasila verpflichtete Großorganisationen. Beide haben die Demokratisierung 1998 unterstützt und konnten für die meisten indonesischen Muslime sprechen.

Selbsternannte Religionsgelehrte gewinnen an Einfluss

Mittlerweile sind aber, neben der FPI, auch viele neue, kleinere, oft nur lokal verankerte Organisationen entstanden. Dabei ist ein direkter saudi-arabischer Einfluss schwer auszumachen. Viele Indonesier haben aber in arabischen Ländern studiert. Ihre Arabischkenntnisse und ihr neu erworbenes religiöses Wissen machen auf viele Landsleute großen Eindruck. Es bedarf keiner ausgeprägten intellektuellen Schärfe, um sich in Indonesien als Experte in Fragen des Islam auszugeben und einen absoluten Wahrheitsanspruch zu formulieren. Seit ein paar Jahren gewinnen solche muslimischen Prediger und selbsternannten Religionsgelehrten an Einfluss. Sie nutzen geschickt soziale Medien, um sich leicht verständlich zu allem und jedem zu äußern. Der Markt für diese Prediger ist groß, aber nur die rhetorisch besonders Befähigten können viele Anhänger um sich scharen. Ist ihnen dies gelungen, können sie in kurzer Zeit sehr viel Geld mit Vorträgen und Werbeverträgen verdienen – wie zum Beispiel Abdul Somad Batubara, der 3,7 Millionen Follower allein auf Instagram hat.

Die neuen sozialen Medien begünstigen die Polarisierung. Der letzte Wahlkampf, besonders das Werben um die „Millennials“, wurde stärker denn je auf digitalen Kanälen wie Facebook, Instagram, Twitter und WhatsApp ausgetragen. Während sich bei Fernsehdebatten die Präsidentschaftskandidaten eher zurückhielten, tobte im Internet ein verbaler Krieg zwischen den verfeindeten Lagern.

Die Frage wie „moderat“ oder „radikal“ indonesische Muslime sind, ist nicht einfach zu beantworten. Um das zu beurteilen, muss man nicht nur die nach außen hin oft intransparenten Parteienapparate und die vielen Wahlkämpfe auf nationaler und subnationaler Ebene in den Blick nehmen. Man muss auch beobachten, wie muslimische Organisationen wie Muhammadiyah, Nahdatul Ulama, die FPI und andere ihre Strategien den sich verändernden Bedingungen anpassen, wie zivilgesellschaftliche Protestbewegungen religiöse Fragen politisieren und wie sich das Bekenntnis zum Islam immer wieder neu artikuliert.

Meinungsumfragen, die meist nur wenige Antwortmöglichkeiten zulassen, kommen zu dem Ergebnis, dass im internationalen Vergleich die Haltung indonesischer Muslime etwa zur Anwendung des islamischen Strafrechtes, zur Rolle der Frau und zum Verhältnis von Politik und Islam einen Mittelplatz einnimmt. Der konservative Islam dringt seit ein paar Jahren in kleinen Schritten vor, fast unmerklich und nicht stetig. Wohin diese Entwicklung führt, ist aber vollkommen unklar. Denn gleichzeitig, also seit 1998, hat sich die indonesische Demokratie als widerstandsfähig erwiesen, und bei nationalen Wahlen gewinnen in der Regel die eher säkular orientierten Parteien. Die gesamte Islamisierungsdynamik wird zwar durch globale Einflüsse, besonders durch solche aus dem arabischen Raum beeinflusst, im Wesentlichen finden die Machtkämpfe aber innerhalb eines nationalstaatlich definierten Rahmens statt.

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erschienen in Ausgabe 9 / 2019: Mission und Macht
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